11 Oktober 2007

«Die Schweizer sind einfach zu bequem»

Meistertrainer Kent Ruhnke beobachtete Montreals Mark Streit beim Spiel in Toronto und sprach mit dem Schweizer Eishockey-Pionier über ihre gemeinsame Leidenschaft.

Von Kent Ruhnke, Toronto

«Hockey Night in Canada», die meistgesehene TV-Sendung des Landes, leitete ihr Samstagabendprogramm mit einer Vorstellung der neuen «Geheimwaffe» der Montreal Canadiens ein. Die Kamera zoomte auf einen etwas nervösen, aber konzentrierten Mark Streit, der im Korridor von Torontos Air Canada Center von einem Fuss auf den andern trat. «Dieser Mann», sagte der Sprecher, «hat eine absolute Kanone von einem Schuss!» Ich sah Mark am letzten Samstag beim 3:4 nach Verlängerung gegen die Maple Leafs spielen. Montreals «Geheimwaffe» hatte während der Overtime in der Nähe des Torraums die Chance zum Siegtor, aber der Puck blieb in seinen Füssen hängen, und er kam nicht zum Schuss. Er besitzt einen bemerkenswert guten ersten Pass und spielte jedes Powerplay, auch bei vier gegen drei. Aber er kommt weder in Unterzahl zum Einsatz noch gegen die erste Linie oder in den letzten Minuten jedes Drittels, wenn das gegnerische Team seine Kräfte konzentriert. Das zeigt, dass er in defensiven Situationen nicht das absolute Vertrauen seiner Trainer geniesst. Mark verliess das Eis mit einer ausgeglichenen Plus-minus-Bilanz nach etwa 20 Minuten Eiszeit – alles in allem ein ausgezeichneter Abend. Er sagte mir, er sei zufrieden mit seiner Leistung und ermutigt, weil er sich im Laufe der Saison immer steigert.

Eine persönliche Bemerkung: Während dieses Spiels habe ich zum ersten Mal in meinem Leben tatsächlich die Montreal Canadiens angefeuert. Von einem Mann aus Toronto ist das beinahe blasphemisch. Mark Streit ist ein Mann auf einer Mission. Er geht und spricht mit dem gelassenen Selbstbewusstsein von jemandem, der weiss, dass er gut ist. Er fühlt sich vollkommen wohl in seiner Haut – ausser, wenn es darum geht, mit seinem Coach zu reden. Als ich ihn von seinem Training in Toronto abholte, sah ich Montreals Headcoach Guy Carbonneau und seinen Assistenten Doug Jarvis und bot ihnen an, sie alle zum Hotel zu fahren. Mark schaute wie ein Hirsch in die Scheinwerfer eines nahenden Autos. Er sagte kein Wort und wand sich sichtlich in seinem Sitz. Es war das einzige Mal während meines Interviews, dass er sprachlos war.

Mark, du sprichst also nicht sehr viel mit deinem Coach?
Eigentlich nie. Das ist nicht mein Job. Es ist nicht wie in Zürich, wo jeder dem anderen ein bisschen dreinredet. Hier sind die Aufgaben klar verteilt. Mein Fokus gilt meiner Leistung, der Coach coacht, und der General Manager stellt das Team zusammen. Es ist eigentlich viel einfacher.

Wie hast du dich gefühlt, als du das erste Mal das Trikot der Canadiens anzogst?
Es lief mir kalt über den Rücken, so überwältigt war ich. Ich war plötzlich in der grossen Garderobe. Aber ich musste meine Ehrfurcht wegschieben und mein Spiel spielen. Und es ist ein komisches Gefühl zu wissen, dass der Typ gegenüber um den gleichen Platz kämpft. Das ist viel einfacher für die Kanadier, denn sie haben um Plätze gekämpft, seit sie zwölf sind. Ich musste mich daran gewöhnen.

Was war anders als bei deinem ersten Anlauf vor acht Jahren bei Utah in der IHL?
Im Profieishockey geht es nur darum, eine Chance zu bekommen und das Beste daraus zu machen. Damals hatte ich keinen Vertrag. Tiefer unten in der Hierarchie kannst du nicht sein. Ich war drei, vier Wochen im Trainingslager, und es sprach nicht einmal jemand mit mir. Aber das ist Teil des Prozesses, sich einen Platz zu erkämpfen. Du darfst dich davon nicht fertig machen lassen oder schmollen. Die härteste Erfahrung meines Lebens war, als ich in meinem ersten Jahr in Montreal 30 Spiele lang überzählig war. Ich war deprimiert, meine Gefühle waren verletzt. Aber du lernst schnell, dass du in diesem Spiel keine Geschenke bekommst.

Du hast Sheldon Sourays Platz im ersten Powerplay-Block übernommen. Fühlst du den Druck?
Ich liebe es. Es gibt keinen Druck. Sie haben mir eine Chance gegeben, und ich bin glücklich. Aber es ist hart. Die Teams wissen, wer schiesst, und sie bleiben in der Schusslinie. Es ist schwierig, eine gute Schussgelegenheit zu bekommen.

Bekommst du so viel Lohn, wie du verdienst?
Darüber denke ich eigentlich nie nach. Für mich ist der Einsatz derselbe, ob ich 500 000 Dollar bekomme oder 5 Millionen. (Anm.: Streit verdient 600 000 Dollar.) Und was auch immer ich unterschrieben habe, das habe ich unterschrieben.

Führt der Coach das Team oder die Spieler?
Letzten Endes sind es die Spieler. Die Trainer geben die Strukturen, aber unsere Leidenschaft, unser Siegeswille und unser Geist sind viel wichtiger.

Legen deine Trainer mehr Wert auf Angriff oder Verteidigung?
Ganz sicher kommt zuerst die Defensive. Du versuchst, in die Tiefe zu spielen, den Puck aus der eigenen Zone zu bringen und intelligente Entscheidungen zu treffen. Ich muss meine defensiven Fähigkeiten in jedem Spiel unter Beweis stellen, und wenn ich einen Fehler mache, bekomme ich es sofort zu hören. Ich habe aber schnell gelernt, Spass zu haben und mein Bestes zu geben. Alles andere liegt ausserhalb meiner Kontrolle.

Wer ist der «dreckigste» Spieler der Liga?
Vielleicht Pittsburghs Jarkko Ruutu, weil er ein übler Störenfried ist und einem unter die Haut gehen kann. Aber 95 Prozent der Spieler sind einfach hart und ziehen ihre Checks durch. In der Schweiz gibt es entschieden mehr «Stockarbeit».

Was ist der Kodex eures Teams bezüglich Schlägereien?
Du denkst nicht nach, du handelst einfach. Wenn jemand einen Teamkameraden verletzt, wird er bestraft. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, aber wir sprechen nicht darüber.

Prügelst du dich auch?
Nein, das wäre nicht gesund (lacht).

Wie fühlst du dich, wenn der Puck in deine Ecke geschossen wird, und der gegnerische Forechecker kommt mit der Absicht, dich durchs Plexiglas zu checken?
Du bereitest dich vor, du erwartest es, du hältst deinen Kopf oben. Ich habe damit kein Problem. Schnelligkeit schlägt Masse. Wenn du schlau bist und gut positioniert, spielt es keine Rolle, wie gross er ist. Du musst herausfinden, wie du gegen die grossen Kerle spielen musst. Ich sehe mich eigentlich nicht als kleinen Spieler. Ich trainiere hart und bin vorbereitet. Es ist viel schwieriger gegen die schnellen Spieler als gegen die grossen, langsamen.

Bist du vor den Spielen nervös?
Nicht besonders. Es entsteht eine gewisse Spannung im Körper, weil du für jedes Spiel bereit sein musst. Es ist eindeutig schwieriger auswärts, wo das Spiel oft in den ersten zehn Minuten gewonnen oder verloren wird.

Hast du Angst vor Verletzungen?
Darüber denke ich nicht nach.

Was hat dich in deiner Jugend darauf vorbereitet, in der NHL zu spielen?
Ich habe jeden Sport betrieben: Tennis, Fussball, Ski. Ich habe jede freie Sekunde auf dem offenen Eisfeld in Bern verbracht. Meine Mutter war eine Skifahrerin mit einer sehr guten Technik. Und ich habe viele Geschichten darüber gehört, was für ein harter Handballer mein Vater war. Vielleicht habe ich ein paar technische und ein paar harte Gene bekommen.

Welches ist der schwierigste Gegner?
Ich denke Ottawa. Sie haben ein grossartiges Team, viel Talent und spielen Powerhockey.

Was müssen Schweizer Spieler tun, um es in die NHL zu schaffen?
Die Schweizer sind einfach zu bequem. Ich kenne viele, die gut genug wären, es sich aber in ihren Klubs gemütlich machen und dort bleiben. Sie müssen die Schweiz verlassen, um bessere Konkurrenz zu bekommen. Wenn du einen bestimmten Punkt erreicht hast, musst du weiterziehen.

Beschreibe einen typischen Spieltag.
Auswärts frühstücken alle zusammen um 9 Uhr und fahren dann zum Stadion. Um 11.30 Uhr gehen wir aufs Eis und laufen uns ein. Danach haben wir Besprechungen der Unterzahl- und Überzahlblöcke, immer mit Videos des gegnerischen Teams. Um 13.30 gibt es Mittagessen, dann schlafen wir ein wenig. Um 16 Uhr essen wir einen Snack und gehen wieder zum Stadion. Carbo (Anm.: Coach Guy Carbonneau) spricht vor dem Spiel noch zum Team, und dann beginnt die Show.

Carbonneau sagte mir: «Mark spielt wirklich gut und mit grossem Selbstvertrauen.» Hast du dich verändert?
Vielleicht hat der Wechsel auf die Stürmerposition in der letzten Saison etwas Druck von mir genommen, und ich konnte mehr mit dem Puck machen. Ausserdem helfen die neuen Regeln Spielern wie mir. Carbo sagte mir, dass ich vor zehn Jahren zu klein gewesen wäre, mit all dem Haken und Halten, die damals üblich waren.

Gibt es jemanden in deinem Team, zu dem du aufschaust?
Saku Koivu, als Person und als Spieler. Er kämpft, hat eine grossartige Technik. Er spielt, wenn er verletzt ist, und hat eine Krebserkrankung überlebt. Koivu hat mir auch sehr geholfen, als ich zum ersten Mal hierher kam

Wer ist der beste Spieler der Liga?
Sidney Crosby von Pittsburgh.

Das Training heute war nicht besonders intensiv. Ist das normal?
Wir bestreiten 82 Partien, und es ist unmöglich, so zu trainieren, wie man spielt. Wir haben ein hohes Tempo und spielen viele Pässe. In Kanada wird immer hart gespielt. In der Schweiz muss man tatsächlich Intensität trainieren.

Gibt es etwas, das du lieber tätest als Eishockey spielen?
Nein.

Was ist dein Karriereziel, jetzt, wo du dich in der NHL durchgesetzt hast?
Ich möchte ein wichtiger Spieler sein und mehr Verantwortung übernehmen. Ich mag Herausforderungen und will gewinnen. Ins Playoff zu kommen, wäre grossartig. Dann kann alles passieren.

Was ist Mark Streits grösste Stärke?
Dass ich nie aufgebe und jeden Tag versuche, besser zu werden.

Schwäche?
Ich bin zu ungeduldig.

Verstehst du jetzt, wie Eishockey mit der kanadischen Kultur verwoben ist?
Es ist unglaublich, mit welcher Leidenschaft die Kanadier beim Eishockey sind und wie stolz sie auf ihr Spiel sind. In der Schweiz hat ein Eishockeyprofi nicht den gleichen Stellenwert in der Gesellschaft. Hier ist er auf der obersten Stufe.

Wenn ich General Manager Bob Gainey fragen würde, warum er dir einen neuen Vertrag geben soll, was würde er sagen?
Weil er ihn sich verdient hat (lacht). Er wird im Juli 2008 ein Free Agent, und wir wollen ihn behalten!

(Quelle: Tages Anzeiger, 11. Oktober 2007)